Jahrbuch Musiktherapie (Band 7)

Zwischenräume fordern heraus. Es heißt, sich in ihnen in besonderem Maße mit dem Eigenen zu identifizieren oder Gefahr zu laufen, sich im Diffusen aufzulösen. Sowohl Musiktherapie als auch Formen musisch-ästhetischer, genuin künstlerischer Bildung entstammen einer einstigen Ungeschiedenheit von Kunst, Kult, Heilung und Erziehung im Bereich Musik und korrelieren heute im Arbeitskontext mit Menschen, die besondere Bedürfnisse aufweisen – z. B. Personen mit kognitiven und/oder körperlichen Behinderungen, Sinnesbehinderungen, (Alters-)Demenzen oder Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten. Nicht selten gleichen sich hier gewisse Methoden und bleiben die Fachgebiete von externen Kollegen undifferenziert. Umso mehr ist unspezifischen Definitionen mit Skepsis zu begegnen. Doch nicht zuletzt Klienten und Klientinnen provozieren einen klaren Umgang mit den fachlichen Grenzen. So sind die beiden Disziplinen hier speziell gefordert, ihr Selbstverständnis diskursiv zu hinterfragen und dialogisch weiterzuentwickeln. Im Anklang an die Philosophie Bernhard Waldenfels’ sind Musiktherapie und Musische Bildung als zwei voneinander getrennte Ordnungen aufzufassen. Die Definition des Eigenen soll jedoch nicht lediglich als ein sich Abschließen von der Umwelt verstanden werden, sondern viel mehr als ein kreatives Antworten auf das Fremde innerhalb eines lebendigen Zwischenraumes, wodurch ein konstruktiver Dialog möglich wird.

Ausgehend von der klinischen Praxis werden in diesem Beitrag erste Gedanken zur Musik-imaginativen Schmerzbehandlung im Hinblick auf frühe und reife Selbstobjektbeziehungen bei Patienten mit der Diagnose Anhaltende somatoforme Schmerzstörung im stationären Aufenthalt in der Psychosomatik ausgeführt. Anhand einer Kasuistik wird exemplarisch erläutert, wie die Struktur der Musik-imaginativen Schmerzbehandlung bei der Behandlung der Patientin Selbstobjektfunktion gewähren und welche psychodynamischen Prozesse sie bewirken kann. Das Schmerzsymptom kann sowohl als Schutzgrenze zwischen Selbst und Objekt als auch als Ausdruck der Ambivalenz der Sehnsucht nach Nähe und der gleichzeitigen Angst vor dem verschlingenden Objekt bewusst werden.

Musik ist nicht nur unmittelbares Erleben, sondern lässt sich auch als hirnphysiologischer Vorgang fassen. Dieser Wirkzusammenhang äußert sich in Emotionen, Empfindungen, somatischen Reaktionen und inneren Bilder. In allen vier Dimensionen spielen Grenzerfahrungen eine wichtige Rolle: in Form von Bewusstseinsgrenzen, moralischen oder emotionalen Limitierungen. In diesem Beitrag wird gezeigt welche Rolle Musik und Musiktherapie als Grenzgänger im Kontext von Bewusstsein, Moral und Emotionen zufallen kann. Am Beispiel des medial inszenierten Phänomens Horror wird gezeigt inwiefern das Zulassen von gewaltförmigen und irritierenden Bildern in musiktherapeutischen Prozessen ein Heilwerden ermöglicht.

Im Aufsatz wird dargestellt, wie in einem musiktherapeutischen Gruppenprozess eine junge türkische Migrantin einen Ausdruck für ihre Identität ‚zwischen den Kulturen‘ findet. Verwicklungen und Lösungsmöglichkeiten werden vor dem Hintergrund psychoanalytischer Theoriebildung reflektiert.

In diesem Beitrag geht es um Systemgrenzen als Funktionen biologischer, psychischer und gesellschaftlicher Systeme. Ausgehend von ihrer ganz persönlichen Grenzerfahrung mit der Berliner „Mauer“, die nicht nur eine Grenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR, sondern während des kalten Krieges eine symbolische Frontlinie zwischen zwei atomar hochgerüsteten Großmächten war, geht die Autorin der Frage nach, ob die als allgemeingültig angenommenen Eigenschaften von Systemgrenzen eine Bedeutung für die Musiktherapie haben. An Hand eines Beispiels aus der musiktherapeutischen Praxis werden theoretische Aspekte aus systemisch-integrativer Sicht erörtert und Schlussfolgerungen für die Praxis zur Diskussion gestellt.

Die Fallstudie stellt eine musiktherapeutische Gruppe mit vier 14jährigen Schülern einer Förderschule für geistig behinderte Kinder und Jugendliche vor. Sie zeigt, wie in den musikalischen Produktionen Ohnmachts- und Allmachtsphantasien zum Ausdruck gebracht und wie durch musikalische Formgebung positive Entwicklungen angestoßen werden. Es wird nachvollziehbar, wie im musikalisch-spielerischen Erkunden des Spielraums und durch probeweises Überschreiten von inneren und äußeren Grenzen neue Erfahrungen gemacht und Isolation überwunden werden kann. Die Beschreibung einer Gruppenimprovisation und die vier Behandlungsschritte der morphologischen Musiktherapie helfen den Behandlungsauftrag zu verstehen und zusammen mit der märchenhaften Geschichte „Wo die wilden Kerle wohnen“ den Behandlungsverlauf zu strukturieren.

Beitrag von Susanne Metzner zum Thema "Betrachtungen über Schwellen"

Enthält eine Buchbesprechung zu: Kahn, Gabriele: Das Innere-Kinder-Retten, Sanfte Traumaverarbeitung bei Komplextraumatisierung Psychosozial-Verlag, Gießen 2010, 225 Seiten, 22,90 ISBN 978-3-8379-2085-7

Enthält eine Buchbesprechung zu: Klaus Leidecker: Musik als Begegnung. Schöpferisches Handeln zwischen Pädagogik und Therapie. Reichert Verlag Wiesbaden 2002, 154 Seiten, 18,00 ISBN 3-89500-256-9.

Enthält eine Buchbesprechung zu: Bernhard Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt (Suhrkamp) 3. Auflage, 2010 134 S., 17,80. ISBN-Nr. : 978-3-518-58460-6

Enthält eine Buchbesprechung zu: Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen (Hg.): Musizieren mit dementen Menschen. Ratgeber für Angehörige und Pflegende. Ernst Reinhardt Verlag, München 2010, 2. Auflage, 146 Seiten, mit Audio-CD, 19,90 EUR. ISBN 978-3-497-02185-7.

Enthält eine Buchbesprechung zu: Monika Baumann/Christian Gessner (Hg.): Zwischenwelten. Musiktherapie bei Patienten mit erworbener Hirnschädigung. Zeitpunkt Musik, Reichert Verlag, Wiesbaden 2004 331 Seiten, 29,90 Euro ISBN: 3-89500-371-9

Enthält eine Buchbesprechung zu: Josi Rom: Identitätsgrenzen des Ich. Einblicke in innere Welten schizophrenie- und borderlinekranker Menschen Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007 240 Seiten, 26,95 ISBN: 978-3-525-49103-4

Enthält eine Buchbesprechung zu: Frank Röhricht (Hg.): Störungsspezifische Konzepte in der Körperpsychotherapie. Psychosozial – Verlag, Gießen, 2011 348 Seiten, 34.90; ISBN-978-3-8379-2090-1